von Soziologin, Trend- und Zukunftsforscherin Maria Angerer
Die Wochen des Shutdowns: Das größte gesellschaftliche Experiment der Geschichte? Da war ich mir ziemlich sicher. So ein massiver Eingriff auf globaler Ebene … eine tatsächlich einmalige Situation in unserer bisherigen Geschichte. In Situationen mit vielen Fragezeichen lege ich gerne Mindmaps an, um einen Überblick zu bekommen (oder zumindest etwas, das sich so anfühlt). Gleich am ersten Tag sprossen da ein paar denkwürdige Äste aus der Mitte. Und mit ihnen die Ahnung, dass es sich nicht um eine *ein*malige Situation handelt, sondern eher um das *erst*malige Auftreten einer Krise mit solcher Tragweite.
“A crisis is a terrible thing to waste.”, sagte der US-Ökonom Paul Romer. Aber warum ist die aktuelle Situation so eine historische Chance für grundlegende Veränderungen – auch und gerade für Unternehmen?
Durch die aktuelle Krise wird nicht alles anders.
Auch wenn Corona einen disruptiven Charakter hat, bedeutet das nicht, dass sich alles verändert. Vielfach werden bereits vorher bestehende Trends und Entwicklungen rasant beschleunigt oder verstärkt, wie zum Beispiel die Digitalisierung, die Individualisierung und die gesellschaftliche Polarisierung. Eine hohe Unsicherheit war schon vor Corona die Begleiterin von Unternehmen und Bürger*innen. Wie mit all diesen Themen umgegangen wird, war die letzten Jahre über schon wichtig – in Situationen wie der aktuellen um ein Vielfaches entscheidender.
Shutdown – was bleibt?
Die Wochen des Shutdowns warfen auch ein neues Licht auf grundlegende Fragen, die entscheidend für die Gestaltung unserer Zukunft sind: Wie viel persönlicher Freiheit sind wir bereit aufzugeben für ein gesellschaftliches Ziel? Wie viel Individualismus – “just for me” – finden wir eigentlich ganz toll, und was ist zu viel? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn Ausgangsbeschränkungen von vielen als angenehme Entschleunigung empfunden werden? Und wie schaffen wir ein Wirtschaftssystem zu etablieren, in dem auch ohne Krisendrama Luft und Gewässer sauber bleiben?
Die aktuelle Situation bringt die brennenden Fragen der Netzwerk-Gesellschaft neu aufs Tapet.
Es geht um neue, schlaue Lösungen, die uns weiterbringen. Wir leben längst in einer sehr komplexen, unvorhersehbaren Welt (Ein Begriff dafür, den man immer öfter hört, ist die VUKA-Welt.) Die aktuelle Krise treibt diese Grundbedingungen nochmals auf die Spitze. Eine Chance grundlegend anders mit dieser Komplexität und Unsicherheit dieser Welt umzugehen. Die Rückkehr zum alten Status Quo wäre daher fatal. Milton Friedman sagte einmal: “In a crisis, action depends on the ideas lying around.” Und Ideen dafür gibt es genug – viele Pionier*innen zeigen uns bereits, wie es geht.
Zukunftslösungen statt lustiger Gadgets.
Das Aufspüren von naheligenden Innovationen erfährt ein Upgrade: Nicht der neueste “heiße Scheiß'” muss aufgestöbert werden. Im Gegenzug geht es darum, Unternehmen und Organisationen vor den Vorhang zu holen, die sich bereits seit längerem mit neuen Lösungen für die entscheidenden Herausforderungen unserer Gesellschaft beschäftigen und diese umsetzen. Und zu zeigen, dass 1. Unternehmen Teil der Lösung gesellschaftlicher Probleme sein können, dass das 2. profitabel ist und 3. für alle Beteiligten (inkl. Planet) mehr Spaß und Sinn bedeutet.
Diese Faktoren werden gerade in einer Post-Corona-Welt relevanter denn je. Denn – wenn wir schon eine Maske tragen, sollten wir beim Blick in die Zukunft zumindest auf die Scheuklappen verzichten.
Maria Angerer ist Soziologin und arbeitet seit 2007 in der Trend- und Zukunftsforschung. Für das Trendbüro Hamburg hat sie gemeinsam mit Prof. Peter Wippermann den deutschen Werte-Index entwickelt, der im Februar 2020 bereits das sechste Mal erschienen ist. Als Gründerin des Instituts für partizipative Sozialforschung und der measury Sozialforschung OG unterstützt sie Unternehmen und Organisationen, die soziale Innovationen vorantreiben und deren Wirkung nachweisen wollen. Hier geht’s zu Maria Angerers Profil auf der Frauendomäne.