Expertisen in einer Zeit der Verunsicherung: Zwischen Bedeutung und Zurückdrängung
Expertisen – also fundiertes, auf Erfahrung, Forschung und Methodik basierendes Wissen – sind in komplexen Gesellschaften unverzichtbar. Sie helfen, Zusammenhänge zu verstehen, informierte Entscheidungen zu treffen und Entwicklungen vorauszudenken. Doch ihre gesellschaftliche Autorität ist heute brüchiger denn je.
In einer Zeit, in der soziale Medien und populistische Diskurse alternative „Wahrheiten“ produzieren, werden Expert*innen nicht nur hinterfragt, sondern zunehmend delegitimiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse stehen im Wettbewerb mit Meinungen, Bauchgefühlen oder Verschwörungsnarrativen. Die Folge ist eine paradoxe Entwicklung: Je dringender wir wissenschaftlich fundierte Orientierung bräuchten – etwa angesichts von Klimakrise, Pandemien oder globalen Ungleichheiten – desto stärker geraten diejenigen unter Druck, die diese Orientierung bieten könnten.
Was bedeuten Expertisen also heute?
- Expertise als Orientierungshilfe in der Unsicherheit: Gerade weil vieles im Wandel ist, brauchen wir Menschen, die mit Fachwissen und Urteilsfähigkeit beitragen, Komplexität zu strukturieren und nicht zwangsweise zu reduzieren. Gute Expertise hilft, Unsicherheit auszuhalten, ohne in Vereinfachung oder Alarmismus zu verfallen.
- Expertise als demokratisches Angebot, nicht als elitärer Machtanspruch: In einer demokratischen Gesellschaft darf Expertise nicht überheblich oder ausschließend auftreten. Es braucht Übersetzungsarbeit: Wissen muss für alle Personen zugänglich gemacht werden, ohne an Tiefe zu verlieren und darf nicht nur jenen zur Verfügung stehen, die komplexe Formulierungen und Theorien verstehen. Wenn Expert*innen nicht nur “verkünden”, sondern auch zuhören und mitgestalten, bleiben sie relevant.
- Expertise im Kampf um Deutungshoheit: Die Frage, wessen Wissen zählt, ist auch eine Frage der Macht. Wer als Expert*in anerkannt wird, hängt nicht nur vom Wissen ab, sondern auch von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Deshalb müssen wir auch feministische, queere, dekoloniale und marginalisierte Perspektiven als Expertisen ernst nehmen.
- Expertise als Haltung: In Zeiten des Zweifels ist Expertise nicht nur Wissen, sondern auch eine Haltung: die Bereitschaft zur kritischen Reflexion, zur methodischen Prüfung, zum transparenten Umgang mit Fehlern. Das unterscheidet sie grundlegend von ideologischen oder interessengeleiteten Positionen.